„Wie die Mehrheit der Menschen in diesem Land, redeten sie am meisten über die Dinge, die ihnen am wenigsten gefielen“, beschreibt Elif Shafak in „Three daughters of Eve“ die üblichen Gespräche einer Männerrunde. Um welches Land es dabei geht, ist eigentlich unerheblich. Oder ist es bei uns anders? Ganz ehrlich… ?
Und darum erinnerte mich Kollegin Mira, während sie mir einen Milchkaffee über den Tresen schiebt, an unsere Vereinbarung, auf die Frage „wie geht‘s dir?“, nicht nur mit dem Bericht über Misserfolgserlebnisse zu antworten. Guter Ansatz, aber lässt sich das mit einer Bahnreise in Einklang bringen?
Ich will mich der Herausforderung stellen.
Gewöhnlich kritisieren wir Menschen eher für Fehler, als sie zu loben. Mag daran liegen, dass wir reibungslose Abläufe für selbstverständlich halten und uns mit unbegründetem Optimismus gegenüber den Kompetenzen unserer Mitmenschen in den Alltag stürzen. Kann aber auch sein, dass wir zwar keine Ahnung haben, wie ein Verbrennungsmotor, Kamillentee, ein Telefon oder zwischenmenschliche Kommunikation funktionieren, aber ganz genau wissen, wie sie funktionieren sollten, und enttäuschte Erwartungen als persönliche Kränkungen auffassen, auf die mit Geschimpfe reagiert werden muss. Positive Rückmeldungen sind einfach seltener, machen die Welt aber deutlich besser als Gemecker und bauen uns auch eher auf als miese Stimmung.
Darum will ich von unserer diesjährige Reise zur Buchmesse in Leipzig berichten, dabei aber versuchen, zwei Dinge zu betonen:
- das Positive, das sich in allem Negativen finden lässt
- die positiven Erlebnisse, die es, bei allem Missgeschick, Ungemach und anderen Euphemismen für Katastrophen, immer noch gab.
Nach dem Fiasko mit der Fahrt zu Ellas Lesung im Rahmen der Buchmesse 2016, wollten wir der Bahn eine weitere Chance geben. Schließlich ist die Reise mit dem Zug noch immer die umweltverträglichste Art der motorisierten Fortbewegung. Bis Hannover ging auch alles gut, doch danach begann der Winter und ein Hauch von Schnee hielt das Land in seinem eisigen Griff. Die Bahn kapitulierte. (Bei den Verhandlungen mit der Gewerkschaft hatte man deutlich mehr Rückgrat bewiesen).
Immer wieder kam es zu langen Wartezeiten vor der Einfahrt in die Bahnhöfe. Wir hatten damit gerechnet, eine Stunde nachdem die Buchmesse ihre Tore öffnen sollte, in Leipzig zu sein.
Positiv: Die Bahn schenkte uns zwei zusätzliche Stunden, um an unserem Blogbeitrag über die Bremer Spatzen zu arbeiten.
Als wir endlich auf dem Messegelände eintrafen, war die Hälfte der Veranstaltungen, die uns interessiert hätten, schon vorüber.
Positiv: Wir durften feststellen, dass wir beide die Kalamitäten der Reise relativ entspannt hinnahmen und uns nicht gegenseitig angifteten, nur weil sonst niemand zur Verfügung stand.
Vor den Hallen wartete bereits das nächste Hindernis in Gestalt des Wachpersonals, das sich jetzt, da der Hauptandrang vorüber war, etwas langweilte und sich alle Zeit der Welt nahm, unsere Rucksäcke auf unerlaubte Gegenstände zu untersuchen.
Linda hatte sich vorgenommen, müllfrei zu reisen, und darum eine teure Glastrinkflasche mit Bügelverschluss im Gepäck. Der Zero-Waste-Gedanke brachte aber unerwartete Probleme mit sich. Dass waffentaugliche Gegenstände nicht mit auf‘s Gelände durften, hatten wir vermutet (war auch nicht nötig, da man auf dem Messegelände überall problemlos Glasflaschen kaufen konnte). Linda war jedoch davon ausgegangen, die Flasche im Schließfach deponieren zu können. Bis zu den Schließfächern kamen wir aber gar nicht, denn – wie einer der Wachmänner stolz grinsend verkündete: An uns kommt keine Flasche vorbei!
Wir hätten Lindas teure Flasche auf einem Tisch im Wachzelt zu einem ganzen Schwarm anderer stellen und hoffen können, sie am Abend noch vorzufinden – ein Vorschlag, der unser Vertrauen in die Ehrlichkeit der Messebesucher aber über Gebühr strapaziert hätte. Darum begaben wir uns auf eine Wanderung zum nächsten Einkaufszentrum, in der Hoffnung, dort Schließfächer zu finden.
Positiv: Auf dem Parkplatz begrüßten uns munter flatternd und tschilpend die Wappenvögel des Verlags.
Tatsächlich gab es Schließfächer. Auf die Frage, wie lange die Geschäfte geöffnet und damit die Schließfächer erreichbar sein würden, wurde uns mitgeteilt, diese wären nicht für Messebesucher gedacht. Wir konnten glaubhaft versichern, auch nie auf diese Idee gekommen zu sein.
Als wir in der Eingangshalle am Schalter standen, strömten die Besucher bereits in Scharen dem Ausgang zu, die Messe würde in einer Stunde schließen und es tröpfelte vom Hallendach. Trotzdem sollte das Ticket noch immer den vollen Preis kosten. Wir kauften zwei Tickets für morgen und gingen wieder.
Positiv: Wir hatten keine Karten im Vorverkauf bestellt und somit für heute 38,- € gespart.
Nachdem wir unser Gepäck aus den Schließfächern geholt hatten, mussten wir noch drei Straßenbahnen abwarten, bis wir mit dem nächsten Schwung Wartender einsteigen und zurück zum Hauptbahnhof fahren konnten.
Positiv: In der Straßenbahn war es nach dem frostigen Tag schön warm durch die effiziente Ausnutzung aller Sitz- und Stehplätze. Der von der Deutschen Bahn ausgerufene Wintereinbruch über Mitteldeutschland schien sich nicht auf das Schienennetz der Straßenbahn zu erstrecken und die Funktion der Weichen zu beeinträchtigen.
Obwohl es noch relativ früh war, beschlossen wir, schon mit dem Nahverkehrszug nach Dessau zu fahren, wo wir unsere Unterkünfte gebucht hatten. Der Zug war zwar als planmäßig angezeigt, kam aber nicht. Konnte er auch nicht, weil zwei andere Züge bereits auf dem Gleis standen. Der Bahnsteigtunnel war ziemlich kalt und zugig. Trotzdem mussten wir dort ausharren, weil keine Informationen zu bekommen waren, wann wo ein Zug fahren würde.
Positiv: Wir sind nicht erfroren (auch wenn es sich so anfühlte).
Irgendwann kam dann doch ein Zug und brachte uns ohne weitere Zwischenfälle nach Dessau, wo wir unser Gepäck in unsere Zimmer im Bauhaus brachten und anschließend zu einem kleinen Nachtspaziergang aufbrachen, um die liebe Binegra zu besuchen, die uns mit leckerem Tee versorgte und mit uns neue Ideen spann für das nächste Spatzenschwärmen sowie das Niko-Nimmersatt-Hörbuch, zu dem sie den Text eingelesen hatte. Außerdem weihte sie uns in ein spannendes neues Projekt ein, das zu beobachten wir uns sicher nicht entgehen lassen werden. Es lohnt sich also auf jeden Fall, ihr auf Musifiziert zu folgen.
Diese Begegnung verschob die Bilanz des Tages ganz entschieden in den positiven Bereich.
Der Samstag begann gleich auf einem optimistischen Grundton und schien alles daran setzen zu wollen, sich beliebt zu machen. Ich öffnete um halb sechs die Augen, blickte zur gegenüberliegenden Wand meines Zimmers, die nur aus Fenstern bestand, und sah mich einem prachtvollen Sonnenaufgang gegenüber, ein Tagesauftakt wie ein tiefes, bronzenes Dröhnen. So könnte es weitergehen.
Ging es zuerst tatsächlich. Wir waren rechtzeitig genug zur Ankunft des Zuges nach Leipzig am Bahnhof, um im Coffeeshop noch in Ruhe ein Frühstück zu uns nehmen zu können.
Positiv: Linda bekam den Tee anstandslos in ihren mitgebrachten Becher gefüllt. Der Zug fuhr pünktlich und trug uns durch eine sonnige, zurückhaltend beschneite Landschaft.
Vor Bitterfeld kam es zu einem längeren Halt, weil wir erst einen anderen Zug vorbeilassen mussten, um in den Bahnhof einfahren zu können. Leider handelte es sich dabei jedoch um unseren Anschlusszug, wie wir in der Bahnhofshalle feststellten. Der Infoschalter war am Samstag natürlich geschlossen. Laut Anzeigetafel war der nächste Zug nach Leipzig, der in einer Stunde fahren sollte, ersatzlos gestrichen. Gelegentlich hallte über die fröstelnd und stehend (Sitzgelegenheiten gab es nicht) Wartenden eine Ansage, die dem erneuten Wintereinbruch die Schuld an den Verspätungen und den ausfallenden Zügen in die Schuhe schob und dazu riet, auf Durchsagen zu achten. Leider blieb diese Durchsage jedoch die einzige – wurde nur laufend wiederholt – bis nach einer Stunde Reisende nach Leipzig überraschend gebeten wurden, sich umgehend zu Gleis 4 zu begeben. Der auf der Anzeigetafel noch immer gecancelte Zug würde pünktlich fahren und konnte nicht warten.
Positiv: Wir durften Zeugen eines eher magischen als physikalischen Phänomens werden. Ein Zug musste sich unter Umgehung aller vorhergehenden Kontrollpunkte direkt im Bahnhof materialisiert haben. Niemand in der Fahrdienstleitung der Bahn konnte seine Annäherung registriert haben. Andernfalls wären die Fahrgäste sicher frühzeitig darauf hingewiesen worden. Die Bahn war davon vermutlich genauso überrascht wie wir – gewiss nicht weniger als vom Winter, sommerlichen Hitzeperioden, Jahreszeiten ganz allgemein.
Unser Geisterzug erreichte den Leipziger Hauptbahnhof pünktlich, machte es sich dann aber hundert Meter vor dem Bahnsteig für eine halbe Stunde im Bahnhofstunnel bequem.
Positiv: Wir erwarteten keine Erklärung und waren deshalb auch nicht enttäuscht, von niemandem auf den außerplanmäßigen Halt hingewiesen zu werden oder dessen Grund zu erfahren.
Endlich im Hauptbahnhof verstauten wir unser Gepäck in einem Schließfach und rumpelten mit der Straßenbahn erneut zum Messegelände.
Positiv: Die Straßenbahn fuhr und erreichte ihr Ziel pünktlich. Der Fahrpreis war im Messeticket enthalten.
Das Wachpersonal war so gut beschäftigt, dass ein bereitwilliger Griff nach dem Reißverschluss des Rucksacks schon als Gepäckkontrolle gewertet und wir ungeduldig durchgewinkt wurden. In der Eingangshalle überrollte uns eine Woge von Lärm. Das Gebäude ist eine auditive Folterkammer, eine architektonische Bankrotterklärung vor den Gesetzen der Akustik.
Positiv: Cosplayer setzten exotische Kontrapunkte zur Masse der Buchbegeisterten und Literaturjunkies, spreizten in ruhigen Ecken ihr Gefieder vor Kameras und flatterten in Schwärmen durch die Menschenströme, gutgelaunte Obertöne im seriösen Grundrauschen.
Vom Vortrag „Warum Buchblogs politischer werden müssen“ bekamen wir leider nur noch die letzten Minuten mit, konnten aber wenigstens die Bremer Buchbloggerin Elif begrüßen, die diesen gemeinsam mit Mareike Hansen moderierte.
Anschließend verschafften wir uns einen Schnellüberblick über die Messestände und -veranstaltungen.
„Wollen Sie mal riechen?“, wurden wir am Stand von Matabooks aufgefordert, unsere Nase in ein Buch zu stecken. Und wirklich wurde uns das olfaktorische Erlebnis einer gemähten Bergwiese zuteil – vegane Heubücher eines Medienunternehmens aus Dresden.
Besondere Bücher machen auch die Kolleginnen vom Verlag Hermann Schmidt, an deren Stand wir einfach Halt machen mussten, um die herausragend schön gestalteten Bücher zu bewundern, in der Hand zu halten, zu streicheln…
Nach einer kurzen Teepause – bei der wir uns kurz für die Idee erwärmten, einen stumpfen Gegenstand der Firma Coca-Cola® zu erwerben und dem Wachpersonal vor der Halle als Souvenir mitzubringen – war es zwar noch nicht spät, aber angesichts des mitteldeutschen Wintereinbruchs bei der Bahn hielten wir es für geraten, schon die Rückreise anzutreten. War es auch. Alle Züge in unsere Richtung waren um Stunden verspätet oder ganz gestrichen.
Die Schalter im Reisezentrum der Bahn waren nur zur Hälfte besetzt. Wer eine Nummer zog, konnte sich auf zwei Stunden Wartezeit einstellen. Trotzdem hielt die Bahn an der strikten Trennung von Kunden 1. und 2. Klasse fest. Passagiere 1. Klasse kamen zwar auch nicht eher weg, aber wenigstens erfuhren sie dies früher. Und schließlich ist eine mäßig katastrophale Situation noch kein Grund, sich gehen zu lassen und den Sinn von Klassenschranken in Zweifel zu ziehen.
Positiv: Das kostenlose Mitfahrticket, das mir der Fahrkartenautomat überraschend spendiert hatte, war noch nicht gültig, und ich musste daher nicht zwei Stunden anstehen, um es einzulösen.
Da auf längere Zeit keine Züge über Hannover nach Bremen fahren würden, suchten wir selbst nach Lösungen und liebäugelten irgendwann mit Verbindungen über Hamburg. Das wäre zwar ein Umweg, aber Hamburg lag außerhalb des mitteldeutschen Winterrevivalkatastrophengebiets. Von dort würde es kein Problem sein, nach Bremen zu kommen.
Wir hielten einen sichtlich gestressten Zugchef mit der Frage auf, ob er uns nach Hamburg mitnehmen würde. Der erklärte uns, nicht sicher zu sein, ob der Weg über Berlin nach Hamburg frei wäre. Zudem würden am ungeschützten Messebahnhof schon rund 300 verzweifelte Reisende darauf warten, zusteigen zu können.
Positiv: Trotz der katastrophalen Bedingungen war das Personal in den Zügen bemerkenswert freundlich und sprach die Probleme offen an.*
Wir nahmen eine spätere Verbindung über Berlin und Hamburg nach Bremen, wo wir gegen Mitternacht eintrafen, und verbrachten die Fahrt meist stehend auf den Gängen.
Positiv: Die Bahn erstattete uns für alle Fahrten dieser zwei Tage die Hälfte des Fahrpreises. Die Antragsformulare dafür lassen sich von der Seite der Bahn herunterladen.
Auch wenn sich einige Erlebnisse nur mit einer gehörigen Portion Ironie positiv umdeuten ließen, machen die hervorgehobenen Punkte doch deutlich, dass die Bilanz dem ersten Eindruck zum Trotz durchaus als ausgewogen angesehen werden kann. Gut, ich könnte mich natürlich auch darauf hinweisen, dass die Fahrt ziemlich scheiße war, und ich hätte recht, aber… es war eben nicht alles Scheiße, die Fahrt hat nicht allein das Wochenende bestimmt, es gab daneben noch Anderes und ich weigere mich, der missglückten Fahrt zu erlauben, den Rest meines Lebens an diesen Tagen zu überschatten. Es liegt an uns, das Internet und unsere Köpfe mit positiven Inhalten zu füllen. Das heißt nicht, dass wir alles rosa anstreichen – aber wir können bewusst machen, dass selten alles daneben geht.
Dass positive Rückmeldungen die Welt besser machen als Gemecker und uns eher aufbauen als miese Stimmung, bedeutet nicht, sich Ärger nicht von der Seele zu reden, und bewahrt das Gegenüber auch nicht davor, sich Geschimpfe anzuhören… aber es liegt zu einem gewissen Teil an uns selbst, wie sehr wir negativen Ereignissen erlauben, uns runterzuziehen, uns den Tag zu verderben.
Wie? Indem wir ein Gegengewicht schaffen. Indem wir uns bewusst machen, welche positiven Erlebnisse der Tag für uns bereitgehalten hat. Indem wir nicht nur sagen, wenn uns etwas stört, sondern mehr auf das achten, was uns gefällt – und das unserem Gegenüber mitteilen.
Sagen wir doch der extrem nervösen neuen Bedienung im Café, wie großartig es ihr gelungen ist, trotz des Massenandrangs, den sie allein bewältigen musste, die Ruhe und ihr Lächeln zu bewahren. Beschweren wir uns bei der Post, wenn eine Büchersendung im Frankierzentrum gehäckselt wurde, aber bedanken wir uns auch beim Paketboten für seine, trotz der stressigen Tour, unerschütterliche Freundlichkeit.
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