
Briefe können nicht nur individuelle, sehr persönliche Kunstwerke sein, mit denen wir über Zeit und Raum hinweg kommunizieren. Wir verdanken ihnen auch ein eigenes Genre, die Briefromane. Ganze Geschichten, die nur aus gesammelten schriftlichen Aufzeichnungen erwachsen, die, sage wir es offen, die klammheimliche Freude des Voyeurs erfüllen am Privaten, Verheimlichten, Abgründigen anderer Menschen.
Die Frage, wie die Autorin in den Besitz kompletter Briefwechsel gelangt sein will, wird dabei nur selten geklärt. Schließlich hat Papierpost keine Reply-Funktion. Wie also? Der BND sucht sicher solches Personal!
Nachdem mir die Idee zu diesem Blog gekommen war, fielen mir überraschend viele Werke ein, die zum Thema passen, und die ich hier kurz vorstellen will. Die eher zufällige Sammlung erstreckt sich über rund 200 Jahre und ist alles Andere als erschöpfend.
Böse Lady
Wahrscheinlich um 1805 schuf Jane Austen mit „Lady Susan“ im gleichnamigen Roman eine Antiheldin, mit der sich in Hinblick auf Boshaftigkeit und Arglist keine Figur aus ihren anderen Romanen messen kann. Ein Lehrstück für Psychopathen, ein Vorbild für Filmbösewichte.
Ganz anders liest sich die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Sammlung tatsächlich authentischer Briefe zweier junger Frauen. Eine der beiden, Magdalene Pauli, Tochter aus einer hanseatischen Bremer Kaufmannsfamilie, veröffentlichte diese berührende Liebesgeschichte 44 Jahre später unter dem Pseudonym Marga Berck und nannte sie „Sommer in Lesmona“.
Kinderträume
Aber Briefromane haben auch das Zeug zu Kinderbuchklassikern, wie Jean Webster 1912 mit „Daddy Langbein“ bewies. Darin wird Jerusha Abbott, die die ersten 18 Jahre ihres Lebens im Waisenhaus verbracht hat, von einem geheimnisvollen (langbeinigen) Wohltäter aufs College geschickt, damit sie Schriftstellerin wird – was sonst – unter der Auflage, einmal im Monat einen Brief zu schreiben. Aschenbrödel trifft den amerikanischen Traum. Einigermaßen unwahrscheinlich, wie diese Es-war-einmal-ein-armes-Waisenkind-Bücher nunmal sind, aber schön wär’s doch … wenn die Welt so funktionierte.
Deutlich düsterer, aber vermutlich nicht weniger Wunscherfüllung, erwachsen aus dem Glauben an eine gerechte Welt, kommt der 1938 veröffentlichte fiktive Briefwechsel „Adresse ungekannt“ von Kathrine Kressmann Taylor daher. Doch soll das Büchlein – Elke Heidenreich bezeichnet es im Vorwort als „Briefnovelle“ – auf tatsächlich geschriebenen Briefen beruhen, auf die die Autorin, deren einziges bekanntes Werk es ist, gestoßen sein will. Darin rächt sich ein jüdischer Kunsthändler durch Briefe an einem verräterischen ehemaligen Freund in Nazideutschland. Dass der letzte Brief ungeöffnet zurückkommt, mit dem Vermerk „Adresse unbekannt“, bestätigt den Erfolg des Plans und die Macht des Wortes.
Erstes Tastengeklapper
In Astrid Lindgrens Jugendbuch „Britt-Mari erleichtert ihr Herz“ von 1960 ist eine Schreibmaschine der Auslöser für die Freude am Schreiben. Und da das ziellose Klackern und Tippen nicht ausreichend Stoff für einen Roman bietet, kommt eine eigenartige Institution hinzu, die es damals noch gab, die „Brieffreundin“. Ein Mädchen in Britt-Maris Klasse rief: „Wer will an ein Mädchen schreiben, die Kajsa Hultin heißt und in Stockholm wohnt?“ – Britt-Mari wollte: Und schon ging es los mit dem Buch.
Rund 30 Jahre später waren Brieffreundinnen vermutlich eher Mangelware, und so griff Nick Bantock in „Griffin & Sabine“ zu einem Trick. Die Geschichte ist offen gestanden etwas fade, aber das Werk unterstützt wie keines der anderen Bücher die Illusion des Lesens fremder Post. Es ist das gestalterisch mit Abstand aufwendigste Buch dieser Art. Neben handgemalten Postkarten finden sich darin sogar Briefumschläge mit zusammengefalteten Briefen.
Papierlose Post
Damit verlassen wir aber auch die Welt der papierenen Post. Daniel Glattauer legt mit seinem Zwillingswerk „Gut gegen Nordwind“ (2006) und „Alle sieben Wellen“ (2009) eine gelungene Adaptation des (Liebes-)Briefromans auf digitale Medien hin. Das erste Buch endet sogar mit dem E-Mail-Äquivalent zu „Adresse unbekannt“, der automatischen Nachricht über die geänderte E-Mail-Adresse.
Noch einen Schritt weiter gehen schließlich Neil Stephenson und Nicole Galland mit dem voluminösen Roman (Stephenson kann nicht anders) „Der Aufstieg und Fall des D.O.D.O.“ (2018). Dieser Zeitreisethriller wird ausschließlich durch eine Sammlung (fiktiver) schriftlicher Zeugnisse, Protokolle, Notizen, Mails und Briefe erzählt.
Und selbst so?
In meinen Regalen stehen sicher noch mehr Briefromane, die ich auf die Schnelle nicht entdeckt habe. Wie sieht es bei euch aus? Welche Bücher dieses Genres fallen euch noch ein?
Mir fallen zwei von mir sehr geliebte Romane von Tilman Rammstedt ein: „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters“, in dem der Ich-Erzähler dem Schauspieler Bruce Willis E-Mails schreibt – ohne Antwort zu bekommen – und ihn erzählend um Hilfe aus einer auswegslosen Situation bittet. Er ist der letzte verbliebene Kunde seines Bankberaters und will ihn mit Hilfe des „Helden“ Bruce aus einer auswegslosen Situation befreien. Sehr komisch, komischerweise aber gleichzeitig mit Tiefgang und Melancholie.
Auch „Der Kaiser von China“ desselben Autors lebt von Briefen des Ich-Erzählers an seine Familie, von denen wir allerdings von Anfang an wissen, dass sie getürkt sind. Der Schreiber will die Familie glauben machen, er reise mit seinem Großvater durch China, lebt aber in Wirklichkeit vorübergehend unter seinem Schreibtisch, um sich vor den Angehörigen zu verstecken. Super!
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Hi Sylvia,
weder vom Autor noch von den Büchern habe ich je gehört, klingt aber spannend. Selbst um „nur“ alle Briefromane zu lesen, scheint das Leben zu kurz zu sein. 🙂
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