Schlagwörter
Abenteuer, Challenge, eBooks, Elektriktrick, Foto, Listen, Minimalismus, nachhaltig, Reisen, Strom
Da ich dazu neige, bei der Reiseplanung immer etwas zu vergessen – bevorzugt wenn ich in abgelegenen Regionen unterwegs bin, wo sich der benötigte Gegenstand nicht noch eben nachkaufen lässt – habe ich schon vor Ewigkeiten begonnen, Ausrüstungslisten anzulegen, die ich an das jeweilige Reiseziel anpasse und regelmäßig aktualisiere. Kürzlich fiel mir eine Liste von 1980 in die Hände, die mir nicht nur vor Augen führte, dass ich ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts bin, sondern noch etwas viel Interessanteres offenbarte.
Die Gegenstände auf der Liste waren für eine Reise nach Island zusammengestellt, damals noch kein hippes Reiseland (dafür war die Verwendung des Begriffs „hip“ noch kein peinlicher Versuch, sich der Jugendsprache zu bedienen), sondern eine Insel mit rund 50 km asphaltierter Straße und ein zweifarbiger Klecks in einem eigenen Rahmen in der oberen linken Ecke von Seite 47 des Dierke Weltatlas‘.
Kurz, es war Wildnis, Abenteuer – was sich auch in meiner Packliste widerspiegelte. Diese war darauf ausgerichtet, die Grundbedürfnisse zu befriedigen: Nahrung, Kleidung, Behausung (Zelt, Schlafsack). Den noch vorhandenen freien Platz im Rucksack füllten Dinge, die schon weiter oben in Maslows Pyramide angeordnet sind und in Richtung Luxus gingen oder der sozialen Interaktion zuträglich waren, wie Hygieneartikel, ein Fotoapparat, Bücher und Schreibutensilien. Was mir im Vergleich zu einer heutigen Packliste auffiel war, dass keiner dieser Ausrüstungsgegenstände Strom brauchte. Das verwunderte mich. Ich war ja dabei, aber trotzdem hat mir erst dieser Rückblick bewusst gemacht, dass die Elektrifizierung der Alltagswelt, die heute so unverzichtbar scheint, nicht selbstverständlich ist. Es gab schon elektrischen Strom, immerhin befand ich mich gerade in der Ausbildung zum Elektroniker, aber in meinem Rucksack war er noch nicht angekommen.
Gibt‘s das auch in nützlich?
Der technische Fortschritt wurde für mich zuerst in der Fotografie spürbar. Kameras brauchten eine Knopfzelle für den Belichtungsmesser. Notfalls ließ sich aber auch ohne fotografieren, indem man den Belichtungswert schätzte. „Die Sonne lacht: Blende 8“. Damit war Schluss, als die Hersteller ihre Sorge um Fotografen ohne funktionsfähigen rechten Daumen entdeckten und den automatischen Filmtransport entwickelten. Damit fiel der Spannhebel weg, der bei rein mechanischen Kameras den Film um jeweils ein Bild weiter transportierte. War die Batterie erschöpft, half auch kein Schätzen mehr. Da konnte die Sonnen so viel lachen wie sie wollte. Es handelte sich zwar um Standardbatterien, die auf Reisen fast überall zu bekommen waren, aber meist zu deutlich erhöhten Preisen. Reserve dabei zu haben war also ratsam.
Mit der Einführung digitaler Kameras stieg auch der Energiehunger der Geräte. Gleichzeitig wurde der Standard für Akkus aufgehoben. Jeder Hersteller hatte sein eigenes Format, häufig sogar für unterschiedliche Geräte aus dem eigenen Haus. Und natürlich brauchte auch jeder Akku sein eigenes Ladegerät.
Parallel dazu wurden erschwingliche Navigationsgeräte entwickelt, die die Orientierung gegenüber dem Hantieren mit Karte und Kompass erleichterten. GPS-Geräte sind toll. Man weiß immer, wo man sich befindet – solange der Akku reicht. Wer schon einmal erlebt hat, wie das GPS mitten im Nirgendwo nach drei Ortsbestimmungen die verbleibende Energie der frisch gekauften Batterien verschwendet, um die blinkende Nachricht „battery low“ auf‘s Display zu bringen, hat eine neue Dimension von Ohnmacht erfahren. Also sind auch hier Ersatzakkus ratsam, und ein weiteres Ladegerät.
Wieso ist mein Guthaben erschöpfter als ich?
Im Laufe der Jahre kamen immer mehr praktische – nützliche – unverzichtbare Geräte hinzu. Eine Stirnlampe, um auch im dunklen Zelt lesen zu können, ein eBook-Reader, um nicht mehr mit der Stirnlampe lesen zu müssen, ein Handy, später ein Smartphone für Nachrichten, Notizen, längere Texte („Siri, zum Diktat“).
All diese Dinge haben natürlich eigene Akkus, eigene Ladegeräte, sind ohne Strom aber völlig nutzloser Ballast, also müssen auch noch eine Powerbank und ein Solarpanel ins Gepäck. So wird immer mehr Platz im Rucksack für eine Ansammlung kleiner Helferlein und ihre Infrastruktur reserviert. Inzwischen findet sich zwar alles in einem handlichen Gerät vereint – das Smartphone navigiert, fotografiert, kommuniziert, animiert, kalkuliert die verbleibende Betriebsdauer und weiß die Ortszeit. Dafür ist aber auch alles auf einen Schlag weg, wenn nur einer der vielen Gründe für die Fehlfunktion des Smartphones eintritt. So ist z.B. nach einer einzigen kalten Nacht im Zelt die Akkuladung schon wieder im roten Bereich.
Elektronische Hilfsmittel sorgen für mehr scheinbare Sicherheit im Abenteuer. Aber sie beanspruchen auch Platz und haben, so klein sie sind, in der Summe durchaus ihr Gewicht. Schwerer noch wiegt aber das Paradoxon, dass gerade jene Dinge, die uns Sorgenfreiheit verheißen, selbst Sorgen bereiten. Sorge um die Akkuladung, die Erreichbarkeit der nächsten Steckdose oder genügend Sonnenlicht für die Photovoltaik, Sorge um ausreichende Netzabdeckung. Ist die sensible Technik auch wirksam vor Kälte und Nässe geschützt? Wieso ist mein Guthaben erschöpfter als ich?
Dauerbesorgt, aber smart
Dies soll jedoch keine nostalgische Klage über die Widrigkeiten einer immer komplizierter werdenden Welt sein. Ich tunke nicht nach jedem dritten Wort den Federkiel ins Tintenglas, sondern tippe diesen Text am PC, recherchiere online, die digitale Technik macht mir Spaß – aber Spaß geht auch immer noch ohne sie. Oder sollte es zumindest. Technische Fortschritte als Ergänzung, als Alternative sind prima. Aber eine Alternative ist keine mehr, wenn sie das komplett ersetzt, zu dem sie eine weitere Option darstellen sollte, und uns die Freiheit der Wahl nimmt, weil sie zum Ersatz wird.
Als ich kürzlich eine defekte mechanische Uhr zum Uhrmacher brachte, schüttelte dieser mitleidig den Kopf, lobte das schöne Stück und riet mir, online nach einer Werkstatt für antike Uhren zu suchen. Antik! Innerhalb von nicht einmal 30 Jahren ist aus einem Gebrauchsgegenstand ein historisches Artefakt geworden. Eine digitale Uhr ist eine sinnvolle Alternative für Menschen, die nicht über ausreichend Feinmotorik oder genug Daumen verfügen (jene, die den automatischen Filmtransport bei Kameras brauchten), um eine Uhr aufzuziehen, es regelmäßig vergessen oder die Zeit nicht aus der Zeigerstellung ablesen können. Aber es sollte eine Alternative bleiben. Die Welt ist nicht komplizierter geworden, sondern wir nur abhängiger, hilfloser gegenüber unseren Hilfsmitteln. Diese sind inzwischen aber nicht mehr nur hilfreich, nicht bloß nützlich, sondern smart.
Aber gesetzt den Fall, ich bin im Weglosen unterwegs, die Akkuleistung meiner Smartwatch ist erschöpft, sie kann nicht nach Hause telefonieren und das Navi behauptet, ich würde hundert Meter vor der Küste im Meer stehen, weil die USA die Genauigkeit der Satellitenpeilung herabgesetzt hat. Dann sind die Geräte absolut nutzlos, erfüllen keinen alternativen Zweck und ich kann sie auch nicht selbst reparieren. Ist hingegen mein Kompass unbrauchbar, weil das Erdmagnetfeld zu Wartungsarbeiten abgeschaltet wurde, kann ich mithilfe der Sonne und einer Uhr die Himmelsrichtung bestimmen oder umgekehrt, wenn ich vergessen habe, die Uhr aufzuziehen, verraten mir Kompass und Sonne die Tageszeit. – Vorausgesetzt, ich verfüge noch über die dafür notwendigen Kompetenzen, was auf ein weiteres Problem intelligenter Technik hinweist: Sie hilft uns so weitreichend, dass wir bestimmte Fähigkeiten nicht mehr benötigen – die meiste Zeit jedenfalls -, aber damit verhilft sie uns auch zur Hilflosigkeit.
Die brauch‘-ich-das-wirklich-Challenge
Zugegeben, die technischen Geräte, die seit 1980 meine Ausrüstungsliste bereichert haben, sind manchmal nützlich, mit Erleichterungen verbunden und befriedigen den Spieltrieb. Aber brauche ich das wirklich? Will ich das? Liegt der größte Vorteil der meisten Geräte nicht darin, dass man auch ganz wunderbar ohne sie zurechtkommt?
Vor vierzig Jahren brach ich ohne all das ins Abenteuer auf. Heute läge vielleicht im Minimalismus das Abenteuer, im bewussten Verzicht. Wodurch lassen sich die stromabhängigen Geräte ersetzen? Durch eine Handvoll haltbarer, nachhaltiger, bewährter, stromunabhängiger Gegenstände.
Und so schreibe ich mir eine neue Packliste für eine kurze, stromlose Wanderung, ein Experiment, die Stromlos-Challenge. Kompass, Karte und eine Uhr für das Zurechtfinden in Zeit und Raum, Taschenbücher für die Unterhaltung, Kerze und Streichhölzer für die dunkle Seite der Nacht, zum Schreiben Notizbuch und Bleistifte – eine der großartigsten Erfindungen, genial in ihrer Einfachheit. Nur was Bilder angeht, schwanke ich noch. Nehme ich eine betagte Kamera mit, die sogar noch älter ist als ich, oder ganz spartanisch nur einen Pinsel und wasserlösliche Buntstifte? Notfalls ließe sich Tusche sogar durch Kaffee ersetzen oder durch die Pigmente aus zerriebenen Blättern, Flechten und Blütenpollen. Dem Minimalismus und der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.
Ich bin dann mal packen.