Cafés sind Inseln der Ruhe, Orte des Beobachtens am Ufer des Passantenstroms. Die Welt findet draußen statt und erreicht uns allenfalls gut abgehangen am Zeitungsständer, verlangt kein Handeln von uns, sondern will nur unterhalten. Cafés erlauben uns die behagliche Haltung des Voyeurs, der sich noch von der Entscheidung zwischen Kakaopulver, Schokostreuseln und gar nichts erholen muss. Warum es nicht so ist, beschreibt Lisa Steppe in dem folgenden Auszug aus „Kommst du ans Meer“.
Am oberen Ende von Nassau Street, bevor die Straße mit Upper Merrion Square verschmilzt, schossen beinahe über Nacht während des Wirtschaftswunders Straßencafés mit Tischen und Stühlen im Freien, von bunten Markisen überdacht, aus dem Boden. Selbst im Regen konnte man eine treue Clientele beobachten, die das europäische Flair des Draußen-Sitzens nicht missen wollte.
In den Bannkreis eines solchen Cafés trat ich nun. Die Tische unter dem roten Segeltuch waren alle besetzt. Ich spähte ins Innere, wo nur ein einziger Gast, eine junge Asiatin, vor ihrem gefüllten Teller saß, eine Zeitschrift neben dem Teller ausgebreitet, damit sie das Essen mit dem Genuss des Lesens verbinden konnte, wie man es oft bei Einsamen beobachten kann. Was mich allerdings im höchsten Maß erstaunte, war die Tatsache, dass die junge Frau schlief. Sie saß mit geschlossenen Augen völlig aufrecht da, den Kopf nur ganz wenig nach hinten geneigt und sah genauso wie der hölzerne Buddha aus, den ich von einer mir bekannten Bildhauerin erstanden hatte. Allerdings war dieser Buddha nackt und von drei Holzwunden durchbohrt, die an die Lanzenwunden des Kruzifixes erinnerten. Aber beide, die Skulptur und die junge Asiatin, hatten den gleichen Ausdruck im Gesicht, welcher meiner Bekannten, der Bildhauerin, nach vielen vergeblichen Versuchen, eines Morgens gelang: Vollkommene Ruhe und vollkommene Erschöpfung.
Es waren diese Gefühle, die mich veranlasst hatten, das Café aufzusuchen. Ich nahm am Nachbartisch der Schlafenden Platz, entledigte mich meines Rucksacks, dann der Regenjacke und bündelte alles auf den Stuhl neben mir. Und als die Kellnerin an meinen Tisch trat, sagte ich mit einer behutsam leisen Stimme, „Einen Kaffee und ein Sandwich.“
Die Frau, auch sie eine junge, beugte sich zu mir herab und prüfte, ob der Milchbehälter aus Glas noch genügend Milch enthielt, dabei kam sie mir so nahe, dass ich das Namensschild lesen konnte, das sie am Revers ihres weißen Kittels trug: Jadwiga.
„Ein schöner Name“, sagte ich leise und deutete auf das Namensschild.
Wie auf Verabredung, sahen wir beide auf die Schlafende. Jadwiga schüttelte den Kopf und sagte in gebrochenem Englisch: „Is tired. Is here for hour and still tired.“
Darauf kehrte sie zu ihrer Arbeit hinter der Theke zurück und ich sackte wollüstig in mich zusammen. Am liebsten hätte auch ich die Augen geschlossen, hatte aber, wohl wegen der Schlafenden, das Gefühl, ich müsse alle meine Sinne beieinander behalten. Draußen fuhr ein Wind hoch und gleich darauf prasselte ein Regenschauer nieder, während die Flaneure ungerührt sitzen blieben und in den Regen starrten.
Jadwiga brachte Kaffee und Sandwich und während ich trank und aß, hielt ich die schlafende Asiatin, die, wie ich meinte, einem mongolischen Volksstamm angehören müsse, im Blick, so wie man mit einem Spiegelglas durch das Fenster in die Wohnung und das Leben eines gegenüberliegenden Hauses schlüpft. Nichts in diesem Gesicht regte sich. Schließlich beschämte mich meine Zudringlichkeit und ich kramte aus meinem Rucksack die Irish Times, die ich an einem Zeitungsstand gekauft hatte.
Kaum hatte ich die Zeitung geöffnet, wurde ich in einen furchtbaren Staubsturm hineingesogen, der Sydney Harbour Bridge am hellichten Tag in eine dunkelrote Finsternis hüllte, wobei die Stahlkonstruktion der Hafenbrücke, vom Olympischen Swimming Pool im Norden aus gesehen, wie von einem Buschfeuer überrollt erschien. Der Verkehr war vollkommen zum Stillstand gekommen und die Menschen von Sydney hatten sich in ihre Häuser verkrochen, während Tausende von Tonnen Humus aus dem fruchtbaren Land im Osten gerissen und emporgeschleudert wurden. Broken Hill im Hinterland hatte seine Zinkmine schließen müssen und die Bergarbeiter fuhren aus dem dunklen Untertag nicht ins Licht hoch, sondern in die Nacht. Um die Mittagszeit brauste der Staubsturm mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h in den Süden nach Queensland und umnachtete Australiens tropisches Paradies.
Ich sah von Seite 14 der Irish Times hoch und bemerkte, dass die Schlafende nicht mehr so aufrecht saß, sondern etwas nach vorn gekippt war. Sollte ich sie wecken? Der Schlaf ist heilig, hatte man mir als Kind eingebläut. Wieder studierte ich das schöne, goldbraune Gesicht mit den hohen, mongolischen Backenknochen. Was machte die Mongolin hier, in der früheren Goldgräberstadt? Vielleicht hatte sie, als sie hier ankam, nicht gewusst, dass Irland von der Höhe des boom eine Höllenfahrt in den bust, den Zusammenbruch, gemacht hatte und dass die Geldblase endgültig geplatzt war. Ich erinnerte mich an die Chinareise von Fintan O’Toole, wie er die Verdunkelung Pekings durch Staubstürme beschrieb, die es aus dem einst fruchtbaren mongolischen Grasland trieb, das durch die Einführung von Rinderzucht überweidet wurde, dann versteppte, um sich schließlich in eine Wüste zu verwandeln. Er nahm riesige, verhungernde Herden von Wildpferden auf, die mit zurückgeworfenem Kopf und irren Augen auf der Suche nach Futter dahinrasten.
Ich hatte die Zeitung gesenkt und sah wieder auf die nach vorn gesackte Gestalt, sah ihre geschlossenen Augen, überlagert von einer Nahaufnahme, die Fintan O’Toole von dem Auge eines verhungernden Wildpferdes gemacht hatte. Schließlich riss ich mich zusammen und blätterte wieder in der Irish Times, aber dieses Mal zurück zum Anfang, um bei der Lektüre, wie es sich gehört, chronologisch vorzugehen. Aber die Logik wurde mir sofort ausgeblasen, als ich auf Seite 3 in die Gletscher der Antarktis geriet. Das Bild zeigte die breiten Bahnen des meltdown. Zum ersten Mal in der Geschichte des Gesteins wurden die schwarzen Abgründe, die niemals dem Licht ausgesetzt worden waren, bloßgelegt, während sich am Gletscherfuß das tintenschwarze neue Meer dem Eis und den Tausenden von kleinen Inseln in den Malediven entgegenhob. Und es war mir, als hörte ich die klatschenden Füße des Herrn Seeler wieder, die draußen, nun im gemordeten Grasland und in der sterbenden Arktis, dahinjagten.
Abrupt stand ich auf, legte die Zeitung auf den Tisch zurück, ging zur Schlafenden am Nachbartisch, hob ihren Arm hoch und schüttelte diesen. „Jadwiga“, rief ich, „call emergency.“
„Ich will damit nichts zu tun haben“, sagte die Polin.
Aber ich wählte bereits die Notrufnummer auf meinem Handy. „Jemand hat hier eine Überdosis Schlaftabletten genommen“, sagte ich. Ich gab die Straße, den Namen des Cafés durch, „um Gotteswillen, schnell“ rief ich und fasste mit meiner warmen Hand nach der eiskalten Hand der Schlafenden, als könne mir die junge Mongolin entspringen.
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