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Innishmurray
Am 12. November 1946 verließen die letzten 46 Bewohner Innishmurray. Es wird angenommen, dass die erste Besiedelung um 2000 v. Chr. erfolgte.
Hinfahren und Ankommen ist nicht leicht. Es gibt keinen offiziellen Bootsverkehr, weil der Atlantik um die Insel als unberechenbar und gefährlich gilt. Man muss sich mit einem der ansässigen Skipper ins Benehmen setzen. Ich war letztes Jahr im blauen Mai, zusammen mit sechs Frauen von der Writers Group, dort. Unser Skipper war der wunderbar informierte Joe McGowan, Seebär und Chronist dieser Gegend. Er überschüttet einen nicht mit Wissen, sondern öffnet seinen Seesack nur, wenn er gefragt wird. Ansonsten ist er ein schweigsamer Mann.
Auch an einem so gut wie windstillen Tag kann die Fahrt dramatisch werden, wenn eine plötzlich auftretende atlantische Grunddünung das Boot bei der Landung an die Felsen drückt. Ebenso gefährlich sind Winde aus Süden und Südwest. Sie blasen direkt in die Klippenwanne von Clashymore, einem Naturhafen, und bereits bei Windstärke 4 kann das Boot an den Klippen zerschellen. Es ist auch kein Landungssteg vorhanden. Wir mussten vom Rand des Kutters, den Joe benützte, über eine tiefe Spalte an Land, das heißt auf die Klippe springen. Der Skipper stand zwar auf der andern Seite bereit und gab Hilfestellung, aber ansetzen und springen muss man schon selbst.
Die Landung ist also nichts für Zaghafte. Die Insel initiiert den Ankömmling. Wenn man am Hafen von Mullaghmore auch sein dickes Auto stehen hat, hier ist man ein Anderer. Man sieht mit andern Augen die Krähenscharbe am Klippenrand stehen, schwarz und aufrecht wie ein Stock, den feinen Kopf leicht vorgeneigt. Lässig wedelt sie ihre aufgefächerten Flügel, um sie vom Wind trocknen zu lassen. Angst hat sie nicht. Auf der Insel gibt es keine natürlichen Feinde. Das wissen auch die Barnikelgänse[1], die von Ostgrönland einfliegen und hier überwintern. Tagsüber weiden sie auf den Wiesen von Lissadell und fliegen abends zum Schlafen auf die Insel. Im Winter zwischen acht und neun kehren sie in großen Schwärmen (inzwischen ist der Bestand auf 3000 Gänse angewachsen) zu ihren Futterplätzen zurück.
Weit draußen am Horizont lag Innishmurray. Die Insel sah wie eine Unterstreichung der Leere aus.
Die Stille auf Innishmurray ist eine andere als die auf dem Festland. Sie feiert sich in den Intervallen zwischen den Vogelrufen: Tausende von Seevögel nisten, leben, schreien hier. Und im Wonnemonat Mai bekommt die Stille auch Farbe, ist rosa und tiefblau, wenn Blaustern und Strandnelke Klippen, Häuserruinen und Wiesen mit ihrem Blumenteppich überziehen. Der Inselwind, der an diesem Tag (dem blauen Tag vor einem Jahr) Innishmurray umfächert, pflügt helle Lichtfurchen durch dieses Blumenmeer.
Wir laufen im Gänsemarsch auf einem schmalen Graspfad. Im Südosten zeichnet der Nephinmore das gigantische Dreieck einer Pyramide an den Horizont. Die frühere Siedlung besteht aus 16 Häusern, manche noch gut erhalten, bei andern ist der Giebel eingefallen. Die verlassenen Häuser, die auf der Kammlinie nicht weit vom Klippenrand auf- und abschwingen, wirken heiter entrückt. Vor jedem Haus bleibt Joe McGowan stehen und ruft den Vaternamen der jeweiligen Familie aus: Martin Heraughty, Dominick Harte, Michael McGowan. Dann zeigt er uns das Haus des letzten „Inselkönigs“, der hier (es gab weder Priester, Arzt, noch Polizei) unumschränkt herrschte.
Die kleine Gruppe löst sich auf. Man will jetzt für sich sein, sich treiben lassen, das besondere Etwas dieser sagenhaften Insel erspüren.
Ich suche Molaise, in einer Umfriedung drei rechteckige Gebäude und drei bienenwabenförmige. Das älteste Gebäude ist die Kirche, Teach Molaise. Klein, intim, ein Holzkirchlein, eher eine Kapelle. Sonntags, wenn der Priester auf dem Festland in Grange die Messe las, wurde hier der Rosenkranz gebetet. Die Inselbewohner waren der Überzeugung, dass dieses Kirchlein could never be filled. Wie viele sich auch hier hereindrängten, der Platz schien sich auf wunderbare Weise zu vermehren (wie Wein und Brot auf der Hochzeit von Kana). Überhaupt hatte man hier so seine eigene Auffassung von der Wirklichkeit (hilfreich war dabei, dass es keinen Priester gab, der einem die Leviten las). Die Insel war außerordentlich dicht von den „guten Leuten“ bevölkert, die an den „sanften Plätzen“ zu finden waren. Dieses Feenvölkchen musste natürlich ständig bei guter Laune gehalten werden, und der erste Tropfen des illegal gebrannten Schnapses (poiteen) wurde zeremoniell über so einen Gentle Place ausgegossen, wobei man drei Mal den Feen zuprostete (seochubaibh) und ihnen zu verstehen gab, dass, wenn es sie nach mehr Branntwein gelüste, sie sich jederzeit am Branntweinfässchen selbst bedienen könnten.
Der Altar der Verfluchenden Steine
Drei Tage lang bereitete sich ein Inselbewohner vor, wenn er jemanden verfluchen wollte: den ersten Tag fastete er; den zweiten und dritten nahm er eine kleine Mahlzeit um die Mittagsstunde ein.
Während der Zeremonie wurde jeder Verfluchende Stein in die Hand genommen und gegen den Uhrzeigersinn gedreht. Das war kein leichtes Unterfangen, da die Inselbewohner behaupteten, es sei unmöglich, die genaue Zahl der Steine zu bestimmen. Da man ja in den meisten Fällen dem Verfluchten den Tod an den Hals wünschte, durfte man die ganze Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen, weil sonst die Verwünschung, wie ein Boomerang, den Verfluchenden selbst treffen konnte.
Es ist heiß geworden zwischen den Steinen. Ich schlüpfe in die Steinbienenwaben der früheren Mönche, danach ins Haus der Osterfastenzeit, ins Schwitzhaus, verweile vor den drei Standing Stones, die Teil der sogenannten 16 Inselstationen sind. Diese Stationen sind aber kein christlicher Kreuzweg im üblichen Sinn. Es wird zwar vor jeder Station im Gebet verharrt, aber schon bei einem der Standing Stones, der Vertiefungen aufweist, merkt man, wo es lang geht, wenn man sich verdeutlicht, dass schwangere Frauen oder welche, die empfangen wollten, diesen Stein aufsuchten. Sie knieten zwar im Gebet nieder, rammten dann aber ihre beiden Daumen in die Vertiefungen, um Fruchtbarkeit oder eine gute Niederkunft zu erbitten.
Da und dort betet ein Gruppenmitglied die Stationen ab, die Silhouette gegen das grelle Licht, das vom Meer aufsteigt, der gesenkte Kopf, umgeben vom Halo der Haare, die der Inselwind aufweht, als Chiffre. Ein älterer Gott bestimmt das Numen der Insel, der Gott der Druiden, für die Natur und Gott eins waren.
Später sitze ich am Brunnen der Zuflucht, zu dem die Inselbewohner pilgerten, wenn Wetter und See sie zu Gefangenen der Insel machten. Hier wurde Wasser entnommen, um den aufgewühlten Atlantik zu besänftigen. Vor der Wasserentnahme umkreiste man den Brunnen drei Mal.
Ich laufe zur letzten Station Rue Point, am äußersten Punkt von Innishmurray im Osten. Nicht Jesu Grablegung ist abgebildet, sondern dem Betenden bietet sich eine atemberaubende Naturkulisse, die ihresgleichen in Europa sucht, wie Joe McGowan zu Recht behauptet.
Ich kehre um und schon bald befinde ich mich in dem unterirdischen Gang, der das Kirchlein, das nicht gefüllt werden kann, mit dem Haus des Feuers verbindet. Der Feuerstein ist ins Zentrum des Kirchenbodens eingelassen. Wären die Herdstellen auf der Insel infolge einer Katastrophe erloschen, hätte man mit Hilfe von einem Stück Torf das Feuer neu an diesem Stein entfachen können.
Genug der wundervollen Vergangenheit. Ich will jetzt in einer der smaragdgrünen Naturwannen baden, über mir Sonnenfunkeln, unter mir der leuchtende Stein. In einer benachbarten Wanne höre ich bereits einige Frauen plätschern und lachen.
Stürmische Rückfahrt. Der Kutter bohrt sich in die Wellentäler, wird von den Wellen emporgeschleudert und sackt wieder zurück in die Tiefe. Im Nu sind wir klitschnass. Beide Fäuste um die Reling gekrallt, geben wir uns dem Riesenrad des Atlantik hin. Der Benbulben am Horizont ist blauschwarz, füllt den ganzen Himmel aus, ein Chamäleonberg, mal riesig, mal geduckt, mal ins Hinterland entrückt oder als viereckiger Block einen Steinwurf weit entfernt in den Boden gerammt.
Der Kutter rast jetzt, vom Westwind vorwärts gepeitscht. Wir nähern uns Gracey’s Bank, einem verhexten Meerstück, aus dem manchmal der Rosengarten auftaucht, „Rosenbusch dicht neben Rosenbusch gepflanzt und alle, die im Boot waren, rochen den betäubenden Duft“.
Wir fliegen über den verborgenen Rosengarten und zwei Stunden später sind wir wieder im Jetzt von Mullaghmore Harbour, als hätten wir nicht ein paar Jahrhunderte auf der Insel, die jetzt nur noch ein schwarzer Strich am Horizont ist, verbracht.
Ich liege auf meinem Erdwulst, erfühle die Verdickung am Hals und an der Schädelbasis.
Auf Innishmurray betteten sie den Sterbenden von der Federmatratze auf eine Strohschütte, weil eine Vogelfeder in der Matratze ihm das Sterben erschwert hätte. Der Todkranke hätte den Ruf des wilden Vogels, den Ruf des unersättlich dahinbrausenden irdischen Lebens gehört und sich mit all seinen Fasern ans Leben geklammert.
[1] barnacle geese = Weißwangengans
Auszug aus: Lisa Steppe „Kommst du ans Meer“
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