Moin!
„Man sollte viel mehr am Meer sein“, singt Binegra.
Wo sie Recht hat…, dachte ich, packte Schreibzeug und seefeste Lektüre in meinen Rucksack, nahm die Bahn nach Dagebül, bestieg die Fähre nach Amrum, wartete in Regen und Gegenwind auf den Bus nach Nebel und sagte mir: „So! Da bist du nun.“
Doch weil selbst am Meer zu sein ohne Bücher nur der halbe Spaß ist, musste Lesefutter mit, das zum Reiseziel passte. Welche Bücher das waren? Seht selbst. Es ging auf jeden Fall um Muschel, Inseln, Meer, Kiesel und Essen.
Kommst du ans Meer
„Ich fuhr beinahe täglich ans Meer – wegen der zweiten Sonne, die im Meer ist.“
Wie Lisa Steppe sah auch ich an meinem ersten Morgen auf Amrum die eine Sonne über dem Meer und die zweite darin, himmeltief unter den Wellen. Aber ich sah nicht nur die Sonnen, sondern auch die Sterne auf dem Sand. Zwischen all das Strandgut, die Gehäuse der Wellhornschnecken, die Bohrmuschelschalen, die leeren Plastikflaschen, die plumpen Austernschalen und schwarzsamtenen Eikapseln von Rochen hatte der Sturm der vergangenen Nacht hunderte von Seesternen geworfen. Schlangenseesterne, gerade mal so groß wie mein Daumenballen, die ihre helle Unterseite der ersten Sonne entgegenhielten. Einige lebten noch, streckten und bogen suchend ihre schlanken Arme. Ich sammelte eine handvoll ein und trug sie zum Wasser, wo sie erst mit zweien ihrer fünf Arme im Sand herumtasteten, bis sie Halt fanden und herumkippten. Die zentrale Öffnung an ihrer Unterseite war nicht mehr zu sehen und mit ihrem dunkleren Rücken waren sie besser an den Untergrund angepasst. Seesterne verfügen über einen recht sparsamen Verdauungstrakt. Ihre Mundöffnung dient nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern erledigt auch den gegenteiligen Prozess. Serviette und Toilettenpapier sind für sie eins. Helden des Minimalismus, diese Seesterne.
Mantelmöwen saßen satt und träge im Sand. Ein Seehund hob den Kopf, blinzelte zu mir herüber und beschloss wohl, wegen eines einzelnen Menschen sein Sonnenbad nicht beenden zu müssen. Ich umging ihn in angemessenem Abstand und stieß auf eine Schleifspur, auf beiden Seiten paarweise gesäumt von Mulden, der ich zum Dünensaum folgte. Der Seehund musste an Land gekommen sein, als das Wasser noch deutlich höher stand. Jetzt robbte er dem zurückweichenden Meer hinterher.
Neben dem Rucksack an eine Düne gelehnt, sah ich dem Meer beim groß sein zu. Gelegentlich zischelte eine Böe durch die Halme des Strandhafers. Sonst war es still, bis ein Austernfischer kurz trillerte, vor dem eigenen Radau erschrak und den Schnabel hielt. Dann war es wieder still. Leise stapelte ich meine Reiselektüre in den Sand. Der Wind blätterte durch die Seiten von „Kommst du ans Meer“. Einige Sandkörnchen prasselten auf das Papier, schabten über Worte, tanzen vor allem im Gravitationssog des einen Wortes: Diagnose.
Im Mai 2009 ging Lisa Steppe ans Meer. Zuerst nur begleitet von einer kleinen digitalen Kamera, die ihr eine Freundin gegeben hatte. Dann begann sie, ihr Tagebuch zu schreiben, schrieb von diesem Irland, in dem sie lebte, von ihrer Geschichte in Deutschland, von dem was war, was ist und was sein könnte – schrieb sich zurück ins Leben. Und immer wieder tauchte es auf, das Meer.
Reisebücher sollten zur Reise passen. Jedenfalls wenn es sich um eine echte Reise handelt, bei der der Zielort zählt. Geht es hingegen nur darum, in einem mobilen Behältnis wie einem Flugzeug oder einem Zug die Langeweile abzuwehren, tut es jedes Buch, das der Unterhaltung dient.
Edible Seashore – Küstenknabbern
Outdoorratgeber zu dem Thema, was man im Wald, auf Wiesen und an Wegrändern alles Essbares entdecken kann und von welchen Pflanzen man besser die Finger lässt, findet man inzwischen relativ viele, besonders aus der Survival-Ecke. John Wright berichtet in „Edible Seashore“, was Küste und Meer in dieser Hinsicht zu bieten haben. Dabei beschreibt er nicht nur essbare Wildpflanzen, sondern wendet sich auch Muscheln und Krustentieren zu. Das Buch schließt sinnvollerweise mit einer Sammlung von Rezepten. Am Strand fand ich jedoch nur ein einzelnes, hauchdünnes Blatt Meersalat. Tang scheint eher Felsenküsten zu bevorzugen und Queller entdeckte ich erst viel später auf der Marschseite der Insel. Mein Magen fand es darum an der Zeit, nach Wittdün reinzuwandern und nach Kaffee und Kuchen zu suchen.
Muscheln in meiner Hand
Diesen schmalen Band von Anne Morrow Lindbergh hatte ich vor Jahrzehnten in der Bibliothek eines Altenheims entdeckt, in dem ich damals arbeitete. Das wusste ich noch, als ich ihn in einem öffentlichen Bücherschrank wiederfand, konnte mich aber nicht mehr an den Inhalt erinnern. Jetzt weiß ich warum. Angesprochen hatte mich, und hat mich auch diesmal wieder, wie zu Beginn jedes Kapitels eine Muschel oder ein Schneckenhaus als Aufhänger für die Themen dienten, die die Autorin beschäftigten: Liebe, Ehe, Wachstum, Freiheit… philosophische Fragen, über die es immer noch nachzudenken lohnt. Aber die Ausführungen von Frau Lindbergh waren schon damals dermaßen konservativ und ihr Gesellschaftsbild in eine so bestürzend religiös durchtränkte Moral eingebettet, dass sich mein Gedächtnis wohl die Mühe des Erinnerns gespart hatte.
The pebbles on the beach – der Klassiker der Kieselkunde
Ein Jahr älter, aber in einer wunderschönen gestalteten neuen Aufmachung und bereichert um ein Vorwort von Robert Macfarlane kommt das Grundlagenwerk für Steinchensammler („A spotter‘s guide) von Clarence Ellis daher. Den mehrfach ausklappbaren Umschlag zieren farbige Zeichnungen verschiedenster Steine. Wer immer schon wissen wollte, wo all die kleinen Kiesel herkommen, wer sie an einigen Küstenabschnitten nach Größe sortiert oder in „Hühnergötter“ die Löcher gebohrt hat, welchen Kräften sie ihre unterschiedlichen Formen verdanken – der findet hier Antworten. Leider sind auf dem Amrumer Kniepsand kaum Kiesel zu finden. Aber dafür kann das Buch nichts und bietet trotzdem eine unterhaltsame Lektüre.
Sea Room
Wer nördliche von Nebel dem versandeten Trampelpfad zwischen dem Wald und den von Heidekraut überwucherten Dünen folgt, gelangt zur Vogelkoje, einem quadratischen See, von dessen Ecken sich leicht gekrümmte Wasserarme in alle Himmelsrichtungen erstrecken. Die Vogelkoje war früher dazu errichtet worden, ziehende Wildvögel anzulocken und zu fangen. Jetzt kann die Anlage auf Bohlenwegen umrundet werden, die sich zwischen Birkenwäldern winden, deren weiße Stämme aus ihrem eigenen Spiegelbild in der Wasserfläche ragen. Es ist, als würde man zwischen den Himmeln gehen.
Ein weiterer Bohlenweg führt zum Nachbau eines eisenzeitlichen Hauses. In regelmäßigen Abständen sind auf dem Weg Zeittafeln angebracht. Mit jedem Schritt ging ich Jahre zurück in die Vergangenheit, war bald im Jahr 500, überschritt kurz darauf das Jahr 0 unserer Zeitrechnung. Nach dem Hausnachbau geht es weiter zurück, vorbei am steinzeitlichen Grab. 4000 v. C. enden die Spuren menschlicher Besiedlung, der Weg erreicht einen Dünenpass, und dann kommen nur noch Strand und Meer. Zeitlos.
Genau der richtige Ort, um Adam Nicolsons „Sea Room“ zu lesen. Auch darin geht es um Seevögel, um Frühgeschichte und das Meer. Nicolson widerfuhr etwas, worum ihn sicher einige beneiden. Er erbte nicht nur eine Insel, sondern gleich drei, die Shiants. Allerdings handelt es sich dabei nicht um palmenbestandene Eilande in smaragdener See, sondern – noch besser – um grasbewachsene Felsklippen, die etwa in der Mitte zwischen den Äußeren Hebriden und der Isle of Skye aus dem Atlantik aufragen. Saisonweise sind die Shiants bewohnt von Millionen brütender Seevögel und grasender Schafe, die mit Booten übergesetzt werden. Archäologischen Ausgrabungen zufolge haben Menschen – irische Einsiedler, Wikinger, Schäfer und Fischer – schon seit Jahrtausenden die Inseln besucht. Adam Nicolson erzählt die Geschichte dieses begrenzten Lebensraums mitten im Meer, der Menschen, die auf und von ihm lebten mit Worten, denen man seine Bewunderung und Begeisterung anmerkt.
Und? Welche Bücher haben dich auf deiner letzten Reise begleitet – oder reisen gerade mit?
Meine letzte Reiselektüre waren (leider völlig unromantisch) ein Kamera-Handbuch und Lehrunterlagen, da ich mich auf eine Prüfung vorbereiten musste und dazu die Abendstunden im HotPot mit Blick aufs Meer genutzt habe 🙂
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